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221654

(2018) Kleine Geschichte der Philosophie, Dordrecht, Springer.

Philosophie im Mittelalter

Theologie beherrscht das ganze Denken

Heiko Reisch

pp. 51-90

Mittelalterliches Denken ist christliches Denken. Es gibt demzufolge nur ein einziges übergeordnetes Prinzip, dem alles untergeordnet wird, und das ist der christliche Gott. Er wird als unendlich und vollkommen beschrieben, menschliches Denken demgegenüber als endlich und fehlbar. Deshalb sind im Mittelalter nicht Verstand oder Vernunft das Maß der Dinge, sondern der Glaube. Für Philosophie ist das keine gute Zeit, denn sie muss sich der Theologie unterordnen. Der Verstand soll auf logischer Ebene zwar Hilfsdienste leisten, beispielsweise bei Gottesbeweisen, die Wahrheit selbst bleibt allerdings der Religion vorbehalten. Diese Gewichtsverschiebung gelingt anfangs zwar, vor allem weil die Texte der antiken Philosophen verloren sind und lediglich Platon rudimentär bekannt ist. Sobald aber die Texte von Aristoteles wieder auftauchen, verändert sich das Denken. Während Platon mit dem christlichen Jenseitsprinzip vereinbar scheint, ist das mit der strikten Erfahrungsorientierung von Aristoteles kaum machbar. Je mehr Einzeltexte von ihm auftauchen, desto schwieriger wird die Situation. Es wird zunehmend deutlich, dass es eine eigenständige antike Tradition gibt, die systematisch gedacht hat und viele Dinge besser erklären konnte. Im Mittelalter sind die Philosophen alle Theologen, und sie versuchen deshalb, Bibel, Platon und Aristoteles in Einklang zu bringen. Das führt zu ausufernden Spekulationen und abstrakten Begriffskonstruktionen, die mit der Wirklichkeit bald nicht mehr Schritt halten können. Nach der Jahrtausendwende entstehen mit wachsenden Städten erste Universitäten und ermöglichen allmählich Diskussionsräume, die Argumentationen jenseits des kirchlichen Dogmenspektrums erproben. Die Renaissance bringt schließlich ein neues Menschenbild hervor, das mit einem ganz neuen Selbstbewusstsein einhergeht. Das verstandesorientierte Erfassen der Wirklichkeit in Experimenten und das Vertrauen auf ein vernünftiges Denken außerhalb des Glaubensspektrums lösen die Unterordnung der Philosophie unter die Theologie auf. Philosophie nähert sich einem intellektuellen Neustart.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-658-16237-5_3

Full citation:

Reisch, H. (2018). Philosophie im Mittelalter: Theologie beherrscht das ganze Denken, in Kleine Geschichte der Philosophie, Dordrecht, Springer, pp. 51-90.

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