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220554

(1999) Konzepte der Moderne, Stuttgart, Metzler.

Nervosität und Moderne

Ursula Link-Heer

pp. 102-119

Die Juxtaposition von ›Nervosität‹ und ›Moderne‹ begegnet an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in vielerlei Gestalt und in unterschiedlichen diskursiven Zusammenhängen. Sigmund Freuds vielzitierter kleiner Aufsatz aus dem Jahr 1908 über »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität« bietet eingangs ein anschauliches Potpourri von Aussagen über »den Zusammenhang der ›wachsenden Nervosität‹ mit dem modernen Kulturleben«, wie ihn vor allem »die Nervenärzte selbst« proklamiert haben.1 Aus Freuds Zitaten-Florilegium geht hervor, daß die Psychiater — hier Wilhelm Erb, Otto Binswanger und Richard Freiherr von Krafft-Ebing — eine unmittelbare Wechselwirkung zwischen dem als hektisch empfundenen »modernen Dasein« und der Zunahme von Nervosität und Nervenkrankheiten postulieren. Ökonomische und industrialistisch-technologische, politische und soziale Faktoren werden gleichermaßen als »Strapazen für das Nervensystem« dingfest gemacht. Aufgezählt werden unter anderem der Kampf ums Dasein, die Großstädte, die Ausweitung des Handels und des Verkehrswesens, Telegraphie und Telephon, Wahlagitationen, Finanzkrisen, Begehrlichkeit nach Luxus, Genußsucht, Reisen und nicht zuletzt »die moderne Literatur«, die »pathologische Gestalten, psychopathisch-sexuelle, revolutionäre und andere Probleme vor den Geist des Lesers [bringt]«.2 Dies alles strapaziert, ermüdet und erschöpft die Nerven, die, um überhaupt noch angeregt werden zu können, nach ständig gesteigerten und raffinierteren Reizen verlangen.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-476-05565-1_6

Full citation:

Link-Heer, U. (1999)., Nervosität und Moderne, in G. Von Graevenitz (Hrsg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart, Metzler, pp. 102-119.

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